Für einen Technik-Journalisten übt der Zeitlupen-Crash, der sich derzeit in der Twitter-Zentrale abspielt, eine morbide Faszination aus. Der neue Eigentümer muss feststellen, dass Loyalität, sowohl von Mitarbeitern als auch von Nutzern, nur sehr schwer zu gewinnen, aber sehr schnell zu verlieren ist.
Man könnte meinen, dass Milliardäre im Nachteil sind, wenn es darum geht, die Natur und die Grenzen der Loyalität zu begreifen, wenn man bedenkt, wie selten sie einen Kumpel anrufen, um eine Kaution oder eine kurzfristige Mitfahrgelegenheit zum Flughafen erbitten zu müssen. Aber die Wahrheit ist, dass Loyalität sowohl sehr widerstandsfähig als auch erschreckend zerbrechlich ist. Wie bei so vielen Dingen endet die Loyalität erst schleichend und dann ganz plötzlich.
Haarsträubende Fehler bei Twitter – Apple ist anders
Es ist unwahrscheinlich, dass Apple so deutlich und so schnell niedergeht wie Twitter, nicht zuletzt, weil das Unternehmen von einem weniger erratischen Führungsteam geleitet wird. (Es ist schwer vorstellbar, dass Tim Cook den Aktienkurs abstürzen lässt, weil er nicht widerstehen konnte, ein irres Meme zu posten.) Aber ich hoffe, dass jemand in Cupertino auf Twitter achtet, denn Apple geht mit der Loyalität seiner Nutzer ein ähnliches Risiko ein und kann weit mehr verlieren.
Apple ist in weitaus stärkerem Maße von der Akzeptanz seiner Kunden abhängig als seine direkten Konkurrenten. Während andere Unternehmen ihre Geschäftsmodelle auf Werbung und Datenerfassung oder auf den Verkauf von Hardware mit den besten Spezifikationen oder den niedrigsten Preisen ausgerichtet haben, konzentrierte sich Apple auf das Erlebnis. Die Produkte des Unternehmens sind sehr beliebt und oft ausgezeichnet, aber was noch wichtiger ist: Man kauft auch einen Lebensstil.
Apple ist Kult – und der will gepflegt sein
Das mag zynisch klingen, aber so ist es nicht gemeint. Die gelegentlich kultähnlichen Tendenzen, die Apple und seine Fans an den Tag legen, können manchmal nerven, aber dieses ungewöhnlich nutzerorientierte Geschäftsmodell – das vor allem davon abhängt, die Kunden davon zu überzeugen, dass Apple cool und ethisch vertretbar ist und man selbst cool und ethisch vertretbar ist, weil man seine Produkte kauft – fördert ein Verhalten, das man von anderen Unternehmen nicht erwarten würde. So weigert sich Apple zum Beispiel, das iPhone eines mutmaßlichen Terroristen zu entsperren, setzt sich gegen Gesetzesvorlagen ein, die sich gegen Homosexuelle und Transgender-Personen richten, oder rückt (sozusagen und langsam) von der Herstellung seiner Produkte in China ab, wo es zahlreiche Vorwürfe wegen Misshandlung von Arbeitern und Zwangsarbeit gibt.
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Cook forderte einmal Skeptiker des Klimawandels auf, ihre Apple-Aktien zu verkaufen, und sagte zu einem Investor: “Wenn wir daran arbeiten, unsere Geräte für Blinde zugänglich zu machen, denke ich nicht an den verdammten ROI.” Damit will ich nicht sagen, dass er diese Dinge in zynischer Weise getan hat, um sich die Gunst potenzieller Kunden zu sichern. Im Gegenteil: Apples Geschäftsmodell von Apple zielt darauf ab, alle davon zu überzeugen, dass wir cool sind. Das bedeutet, dass Cupertino es sich leisten kann, einen CEO mit einem starken ethischen Kompass zu beschäftigen.
Den Nutzer als selbstverständlich ansehen
Das Problem bei der Abhängigkeit vom Wohlwollen der Nutzer ist jedoch, dass es launisch sein kann und leicht als selbstverständlich angesehen wird. Und ich befürchte, dass Apple es im Moment als selbstverständlich ansieht. In der Tat hat man das Gefühl, dass die Apple-Führung in den letzten Jahren begonnen hat, sich zu fragen, ob sich mehr Geld verdienen ließe, wenn das Unternehmen nicht ständig das Wohl der Nutzer in den Vordergrund stellen würde, und die Nutzer merken das allmählich.
Nehmen wir zum Beispiel den Preis. Apple war schon immer für seine hohen Preise bekannt, aber in der Vergangenheit waren die Produkte im Großen und Ganzen gerechtfertigt; sie waren zwar teuer, aber sie waren einigermaßen preiswert. Und das Unternehmen hat in der Regel sein Bestes getan, um in jeder Kategorie mindestens eine günstigere Variante anzubieten. Doch in diesem Jahr hat Apple einige dieser preisgünstigen Modelle gestrichen und andere mit weniger Funktionen ausgestattet, um die Kunden zur teuren Variante zu drängen. Auf das Einsteigermodell iPad der 9. Generation folgt das teurere Modell der 10. Generation – das iPad 9 bleibt zwar im Angebot, auf eine sonst übliche Preisreduzierung hat Apple verzichtet. Das Gleiche gilt für das Macbook Air M1, den Nachfolger mit M2 kann man in seiner günstigsten Variante wegen der langsamen SSD an sich nicht empfehlen. Und je weniger über die Preiserhöhungen von Apple in Europa gesagt wird, desto besser.
Billige Tricks ist man von Apple nicht gewohnt
Das ist das Verhalten, das man von einem Unternehmen erwarten würde, das dringend mehr Geld braucht und davon ausgeht, dass seine Kunden nicht in der Lage sind, Nein zu sagen (mit anderen Worten: ein Unternehmen, das ein unelastisches Produkt verkauft). Lasst uns den Preis erhöhen, muss jemand gesagt haben. Was sollen sie denn tun, kein iPad kaufen? Vielleicht findet Apple gerade die Antwort auf diese Frage heraus.
Ein schwerwiegenderes Problem entsteht jedoch, wenn ein Unternehmen Aspekte der Nutzererfahrung vernachlässigt, die es ausdrücklich als Grund für den Kauf seiner Produkte angeführt hat. Apple hat sich jahrelang als das Unternehmen positioniert, das sich für den Datenschutz einsetzt, und war dank seines Geschäftsmodells in der perfekten Position, um dies auch umzusetzen. Doch nun sieht sich das Unternehmen mit einer Klage wegen “Datenschutzbedenken” im App Store konfrontiert, in dem angeblich unter Missachtung der Datenschutzeinstellungen Nutzerdaten gesammelt wurden.
Und das bringt uns zu der zunehmenden Verbreitung von Werbung im App Store, die ein deutliches Zeichen für die Prioritäten von Apple ist. Was ist dem Unternehmen wichtiger: dem Nutzer zu helfen oder Geld mit Werbekunden zu verdienen? Sie haben Ihre Antwort.
Abschied von Apple
Es wäre einigermaßen verständlich, wenn die Verantwortlichen von Apple dächten, sie könnten nichts falsch machen. Das Unternehmen hat gerade eine weitere Rekordbilanz vorgelegt: Die Kunden gehen doch nirgendwo hin, oder? Vielleicht nicht. Aber das sollte man nicht als gegeben hinnehmen.
Jahrelang haben sich die Nutzer von Twitter über so ziemlich jeden Aspekt der Website beschwert, sie aber trotzdem weiter genutzt und über ihre Abhängigkeit von der “Höllenseite” gescherzt. Vermutlich ging Musk davon aus, dass er den Preis erhöhen, eine Reihe von Funktionen ändern und generell alle beleidigen könnte, und die Nutzer würden dabei bleiben – und vielleicht hat er ja recht. Aber während ich hier schreibe, verabschieden sich zahlreiche regelmäßige Twitter-Nutzer und posten Links zu anderen sozialen Netzwerken, um sich auf einen Massenexodus vorzubereiten.
Dieser Artikel ist zuerst auf Macworld.com erschienen und wurde aus dem Englischen übersetzt
Prominenter Abgang
Die letzten Tage und Wochen gewann man zusehends den Eindruck, Twitters neue Strategie wäre es, Prominente zu vergraulen und Firmen, die Werbung in einem immer unattraktiver wirkenden Umfeld zu vermeiden. So hat etwa eine der weltgrößten Agenturen für Onlinewerbung, Omnicron, seinen Kunden – darunter Apple – zu einem Stopp von Werbung auf Twitter geraten. Phil Schiller, bei Apple lang Jahre für das weltweite Marketing zuständig und jetzt als Apple Fellow eher lose mit dem Mac-Hersteller verbandelt, hat nun offenbar persönliche Konsequenzen gezogen und sein Konto deaktiviert. Der Account @pschiller existiere nicht, gibt das Netzwerk als Fehlermeldung aus. Schiller hatte rund 265.000 Follower, denen er in gewohnter Manier die Produkte und Services Apples schmackhaft machte. Und natürlich war Phil Schiller mit einem “Blue Check” verifiziert, den Twitter nun im Blue-Abonnement an alle verhökert. pm