Vor einiger Zeit erreichte uns eine Anfrage, ob wir nicht einen Blick auf „Sidekick“ werfen können. Der Chromium-basierte Browser richtet sich insbesondere an Menschen mit ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit- (und Hyperaktivitäts-) Störung –, da er nervige Ablenkungen wie Werbung und Benachrichtigungen von Werk aus einigermaßen effektiv ausblenden kann – neben ein paar anderen Funktionen.
„Von der ADHS-Community getestet und geliebt“, heißt es auf der Webseite; wie Experten zu dieser Behauptung stehen, ist weit und breit nicht zu sehen. Auf der „Über uns“-Seite heißt es, die Entwickler:innen hätten sich an Neurowissenschaftler:innen gewandt, im Blog gibt es unter anderem quellenlose Tipps, wie man mit ADHS umgehen kann.
Der CEO Dmitry Pushkarev hat einen PhD in theoretischer Physik und in der Wirtschaft Berührungspunkte mit verschiedenen Bereichen, Hirnforschung war bisher jedoch keiner davon.
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Noch ein Browser. Warum?
Diese Frage stellt Sidekick auf seiner Webseite und versucht sie mit vielen vagen, lose aneinander geketteten Aussagen zu beantworten. Als ADHS-Betroffener wollte ich dieser Frage nachgehen, denn einerseits war ich neugierig, andererseits musste ich bereits im Vorfeld intensiv mit den Augen rollen.
Das Thema ADHS hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen und ist besonders in den sozialen Medien beinahe trendy. Tiktok ist voll mit mal mehr, mal weniger fragwürdigen ADHS-Tipps und -Memes und auch auf Youtube gibt es neben wirklich hilfreichen Channels sehr viele weniger seriöse Inhalte.
Das Thema Neurodiversität ist so heiß, dass auch Unternehmen um die Aufmerksamkeit von Menschen mit Aufmerksamkeitsschwäche buhlen. Ein neuer Browser, den es seit 2019 gibt und der genau diese Zielgruppe ansprechen will, bringt dann eben ein gewisses Gschmäckle mit sich.
Lesetipp: Microsoft Edge: der beste Browser für den Mac?

Sidekick
Was Sidekick kann
Sidekick präsentiert sich als ultimativer Produktivitäts- und Privatsphärebrowser, in den sich viele externe Dienste integrieren und auf Wunsch komplett ausblenden lassen. So können Sie Whatsapp, Telegram, Slack, Teams und viele andere Apps dieser Art als Web-App im Browser einbinden und aus der Seitenleiste heraus darauf zugreifen, ohne ins Fenster der nativen App fürs Betriebssystem Ihrer Wahl wechseln zu müssen. Benachrichtigung dieser Apps werden ebenfalls innerhalb des Browsers angezeigt.
Möchten Sie sich auf Ihre Arbeit konzentrieren und lästige Benachrichtigungen von Gruppenchats und anderen Konversationen ausblenden, können Sie sie entweder für eine bestimmte Zeit global stummschalten oder gleich in den Fokusmodus wechseln. Dabei handelt es sich um eine Art Vollbildmodus ohne Seitenleiste und Benachrichtigungen, aber auch Adresszeile und Tab-Leiste werden dabei ausgeblendet, damit Sie sich nur auf den Inhalt konzentrieren können.
Dazu kommen Sitzungen – andere Browser nennen Sie Tab-Gruppen –, in denen Sie Tabs gruppieren können. Wann Sie sich in Photoshop kreativ betätigen, könnten Sie Youtube-Tutorials, Stockfotos und andere Datenbanken in eine Gruppe werfen; wenn Sie in Ihren Pausen ausspannen wollen – Reddit, Facebook, Twitter usw. in eine andere. Die Funktion ist zwar nützlich, aber keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal: Alle gängigen Browser besitzen sie inzwischen auf die eine oder andere Weise.

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Um dabei zu helfen, eine gesunde Arbeitsroutine zu schaffen, kommt Sidekick außerdem mit einem eingebauten Pomodoro-Timer. Zeitmanagement ist für ADHS-Betroffene ein gewaltiges Problem und die Pomodoro-Technik soll mit ihren halbstündigen Intervallen (25 Minuten Arbeit, 5 Minuten Pause) eine Routine aufbauen, was ohne Hilfe von außen praktisch unmöglich wäre.
Dazu kommt ein Ablenkungsblocker, den man konfigurieren und bei Bedarf einschalten kann. Dadurch können beliebte Plattformen zur Ablenkung automatisch umgeleitet werden. Voreingestellt sind beispielsweise Umleitungen von Youtube, Facebook und Instagram auf Google Mail.
Zu den Privatsphäre-Optionen gehört ein integriertes VPN, das offensichtlich jedoch nur auf etwas mehr als eine Handvoll große Webseiten beschränkt ist – Facebook, Twitter, Canva usw. –, ein Fingerprinting-Schutz und ein integrierter Adblocker ohne jegliche Konfigurationsmöglichkeiten.

Foundry
Wie Sidekick das Ziel verfehlt
Was auf dem Papier durchaus sinnvoll klingt, scheitert schon daran, dass Sidekick Lösungen für Probleme bietet, die sowohl macOS als auch Windows bereits mit Bordmitteln lösen können. Dass Ihnen der Fokusmodus von Sidekick irgendwie bekannt vorkommt, liegt daran, dass sowohl macOS als auch Windows über dieselbe Funktion verfügen; bei beiden Betriebssystemen heißt sie – Überraschung! – „Fokus“ und blendet zeitweise sämtliche Benachrichtigungen aus, mit anderen Nebeneffekten.
Der Vollbildmodus von macOS ist dem von Sidekick überlegen, da sich Sidekick logischerweise nur aufs Browserfenster beschränkt, das Dock und die Menüleiste von macOS davon jedoch nicht betroffen sind. Wenn das Dock also nicht standardmäßig ausgeblendet wird, hat man beim Fokusmodus von Sidekick immer noch sämtliche Ablenkungen, die von dort ausgehen (auch wenn das bei macOS nicht viele sind). Optimal wäre natürlich eine Kombination der beiden Modi, aber je weniger Schritte zur Einrichtung, desto besser.

So oder so ähnlich dürfte das VPN von Sidekick funktionieren – konkrete Informationen darüber gibt die Firma nicht preis.
IDG
Die Privatsphäre-Optionen wiederum sind völlig intransparent. Sidekick bietet einen VPN-Dienst an, äußert sich aber nicht zu Partnern, Verschlüsselung, Standort und anderen relevanten Eckpunkten eines VPN. Selbst in der englischsprachigen Datenschutzerklärung werden nur vage „third-party service provider“ genannt und dass Informationen, einschließlich persönlicher Daten, mit ihnen geteilt werden. Wirklich vertrauenerweckend!
Auch die Funktionsweise des Werbeblockers ist nur schwer nachzuvollziehen. Während Projekte wie Ublock Origin quelloffen sind und auf freiwilliger Basis gepflegt und weiterentwickelt werden, bietet etwa das deutlich weiter verbreitete Adblock Plus eine Lücke für Werbekunden: Gegen Bezahlung lässt Adblock Plus bestimmte Werbung durch. Die Option ist in der Erweiterung standardmäßig aktiviert und muss manuell ausgeschaltet werden. Wie das bei Sidekick ist – dazu gibt das Unternehmen keine Informationen.
Lesetipp: Die besten VPN-Apps für Macs und iPhones
Insgesamt ist Sidekick auch nur halb so nützlich, wenn man nicht ausschließlich web-basiert arbeitet. Benutzt man Photoshop, Excel und andere Programme in ihren Desktop-Varianten – was zumindest bei anspruchsvollen Anwendungen wie Bild- und Videobearbeitung überhaupt nicht zur Debatte steht –, gehen sämtliche Produktivitätsfunktionen von Sidekick flöten, darauf haben die Ablenkungsblocker natürlich keinen Einfluss.
Web-Versionen von Teams, Slack und vielen anderen Apps haben häufig einen geringeren Funktionsumfang als ihre Desktop-Clients und sind in der Regel deutlich Ressourcen-hungriger, was zum Problem werden kann, wenn der Browser deswegen den Dienst quittiert.

Foundry
Bei der Seitenleiste kommt erschwerend hinzu, dass sie in der kostenfreien Version auf nur fünf Apps beschränkt ist. Möchten Sie mehr Plattformen einbinden, bittet Sidekick Sie zur Kasse. Für einen Browser bezahlen, der mit vielen Versprechen lockt, aber auch viel Intransparenz? Entscheiden Sie selbst, ob das nach einem attraktiven Angebot klingt. Wie es bei solchen Geschäftsmodellen üblich ist, wird man regelmäßig auf die Pro-Version hingewiesen – so viel zum Browser gegen Ablenkungen.
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Darüber hinaus erinnert Sidekick ständig daran, dass ein Account benötigt wird, um Apps und Einstellungen zwischen verschiedenen Geräten zu synchronisieren und „erweiterte Funktionen“ zu benutzen. Bei der Synchronisierung sehe ich das ein, aber warum muss ich mich registrieren, um alle Funktionen des Browsers verwenden zu können?
Was Sidekick augenscheinlich gar nicht bedenkt, ist, wie unglaublich anstrengend es für Menschen mit ADHS ist, bereits etablierte Routinen über den Haufen zu werfen und neue aufzubauen – und da gehört ein neuer Browser eben dazu. Freilich ist der Umstieg etwas einfacher, wenn man von Chrome kommt, da Sidekick, wie alle anderen Browser außer Firefox und Safari, auf Chromium basiert und Erweiterungen einfach übernommen werden können. Wenn Sie jedoch von einem der anderen beiden kommen, dann sinkt die Motivation, diesen neuen Browser auszuprobieren und Erweiterungen zu suchen und zu installieren, ganz schnell, ganz tief.

Foundry
Selbst von Chrome unterscheidet sich die Benutzeroberfläche teils sehr stark und wenn ich ordentlich arbeiten soll, dann will ich mich nicht erst eine gefühlte halbe Ewigkeit an eine neue Benutzeroberfläche gewöhnen.
Sidekick will die einzige Desktop-App auf Ihrem Rechner sein, quasi ein Betriebssystem im Betriebssystem – aber warum? Und macht es überhaupt einen Unterschied, ob Sie Apps wie Teams, Slack und Whatsapp aus der Seitenleiste eines Browsers heraus in einem neuen Tab öffnen und die dazugehörigen Benachrichtigungen im Browser erhalten, statt sie wie gewohnt aus dem Dock heraus zu öffnen und die Benachrichtigungen in der oberen rechten Ecke zu bekommen? Meine Meinung: absolut nicht. Bleiben Sie lieber bei Ihren Gewohnheiten und bauen Sie sie nach und nach aus – dazu später mehr.
Den größten Bock für mich persönlich hat Sidekick jedoch abgeschossen, als es den Status sämtlicher Apps, die ich in die Seitenleiste gesteckt habe, ohne mich zu fragen, zu „I am using Sidekick“ – oder so ähnlich – geändert hat; in Teams, in Slack, in Discord, in Whatsapp – in allen Apps, die diese Funktion unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt ist mein ohnehin schon dünner ADS-Geduldsfaden endgültig gerissen und ich habe Sidekick nach etwa einer Stunde wieder deinstalliert – aus purer Wut über diese Übergriffigkeit auf meine Privatsphäre.

IDG
Was andere Browser von Sidekick lernen können
Generell ist der Ansatz von Sidekick natürlich lobenswert – vorinstallierter Werbeblocker, einige interessante Privatsphäre-Funktionen, integrierte Werkzeuge gegen Ablenkung und kaum nerviger Schnickschnack, der in immer mehr Browsern Einzug findet. Edge ist hier mit seinem schlecht übersetzten Schnäppchen-Plugin und dem überdimensionierten Bing-GPT-Symbol, das bei der kleinsten Berührung ohne zu fragen eine riesige, versteckte Seitenleiste öffnet, der größte Übeltäter und der reinste Ablenkungs-Supergau.
Wo sich andere Browser etwas abschauen können, sind in erster Linie Werkzeuge, um Ablenkung zu reduzieren. Der integrierte Fokusmodus ist trotz seiner Einschränkungen sehr interessant und besonders in Kombination mit Bordmitteln von macOS eine effektive Möglichkeit, unnötige Ablenkungen zu vermeiden.
Als einziger anderer Browser besitzt Safari unter macOS einen Fokusmodus, der über den globalen „Fokus“ des Betriebssystems geregelt wird. Hier können Sie für jeden Fokus einzelne Tab-Gruppen einstellen, die angezeigt werden.
Weder Chrome noch Firefox oder Edge besitzen eine solche Funktion, ganz zu schweigen von der Integration in den Fokus von macOS. Letzterer hatte zumindest 2020 mit etwas Vergleichbarem experimentiert, eingeführt wurde es jedoch nie – ganz im Gegenteil, es wurde wieder aus der Liste der experimentellen Features entfernt.
Für praktisch alles andere gibt es externe Lösungen in Form von Erweiterungen.
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So vermeiden Sie Ablenkungen – ohne neuen Browser
Das Gute an modernen Browsern ist, dass sie fast bis zur Unendlichkeit modifiziert werden können. Insofern gibt es für jeden Browser unzählige Erweiterungen, die den Funktionsumfang vergrößern können. Wenn Sie also seit 10 Jahren denselben Browser benutzen und zufrieden damit sind, können Sie in der Regel vieles nachjustieren, ohne Ihre Routine oder Gewohnheiten mit einem Browser-Wechsel durcheinanderzubringen.
Während Sie die besten Ergebnisse mit Chrome, Edge und Firefox erzielen, gibt es bei Safari technisch bedingt einige Einschränkungen; Apple geht mit seinem Browser deutlich restriktiver um, was Erweiterungen angeht, außerdem können „echte Apps“ ähnliche Funktionen erfüllen, was die Grenze etwas verschwimmen lässt. Außerdem sind viele Erweiterungen kostenpflichtig.
Während Sie Benachrichtigungen unter macOS bereits mit „Fokus“ gut ausblenden können, hat das Betriebssystem keine sinnvollen Bordmittel, um ablenkende Websites temporär zu sperren. Doch es gibt externe Hilfsmittel:

1Focus
Mit 1Focus können Sie eine Liste unerwünschter Websites und Apps erstellen und die Sperre bei Bedarf für eine bestimmte Zeit aktivieren. Außerdem lassen sich verschiedene Zeitpläne einrichten; vormittags können Sie die Intervalle beispielsweise kürzer setzen und nachmittags länger – oder andersherum. Die grundlegenden Funktionen sind kostenlos, wenn Sie verschiedene Blocklisten erstellen wollen, ganze Kategorien sperren statt einzelner Webseiten oder Zeitpläne täglich oder wöchentlich automatisch wiederholen lassen möchten, brauchen Sie die Pro-Version für 1,99 Euro monatlich oder 9,99 Euro im Jahr. Der Vorteil an 1Focus: Die App funktioniert nicht nur mit Safari, sondern auch mit Chromium-basierten Browsern, also Chrome, Edge, Opera und Brave. Einzig Firefox ist inkompatibel.
Abgesehen davon gibt es etliche andere Apps mit vergleichbarem oder deutlich größerem Funktionsumfang, die jedoch alle ihre Einschränkungen haben: Flow ist hübsch und kann Ihnen eine Statistik Ihrer Sitzungen ausgeben, Webseiten blockieren kann sie aber nur gegen Bezahlung. Insgesamt umfangreicher ist Session – Pomodoro Focus Timer, aber auch hier sind viele der Funktionen nur gegen Aufpreis verfügbar. Ich empfehle, erst einmal unverbindlich 1Focus auszuprobieren und dann bei Bedarf auf die Pro-Variante oder eine der anderen Apps upzugraden.
Wenn Sie stattdessen auf Chrome (Edge, Opera, Brave) oder Firefox setzen und lieber Erweiterungen verwenden, gibt es auch hier Lösungen: Strict Workflow ist eine der beliebtesten Erweiterungen ihrer Art für Chrome und seine Derivate und kann basierend auf einem Pomodoro-Timer Webseiten blockieren und Sie benachrichtigen, wenn der Timer vorbei ist. Etwas hübscher ist Nucleus, macht im Grunde aber dasselbe.
Unter den vergleichbaren Erweiterungen für Firefox ist die beliebteste und umfangreichste Leechblock NG. Hier können Sie bis zu 30 verschiedene Sätze zu blockender Apps einrichten und diese zu bestimmten Zeitfenstern aktivieren. Die Optionen können sehr granular eingestellt werden, allerdings ist Leechblock nicht geknüpft an einen Pomodoro-Timer, sondern an feste Uhrzeiten, was die Erweiterung etwas unflexibel macht. Das Pendant zu Strict Workflow für Chrome ist Block Clock und funktioniert genauso, nur in Firefox. Alternativ gibt es die Erweiterung Tomato Tomato, die genauso funktioniert.
In Kombination mit Fokus von macOS sollten Sie mit diesen Funktionen in jedem Browser ein ähnliches Erlebnis erreichen, wie Sidekick sie verspricht, ohne nervige Umgewöhnung. Natürlich können Sie Sidekick auch selbst ausprobieren, in der Grundversion ist er schließlich kostenlos. Den Browser können Sie auf der dazugehörigen Webseite herunterladen.
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