Apple hat einen sehr Grund dafür, warum die neue Vision Pro nicht als AR- oder VR-Brille bezeichnet wird. Laut Cupertino ist sie nämlich nicht nur einfach ein neues Produkt, sondern soll eine komplett neue Produktart begründen, das „spatial computing“.
Das wirkt auf den ersten Blick etwas hilflos. Boshafte Menschen könnten sogar behaupten, Apple weiß selber nicht so recht, wozu der neuartige Raumcomputer dienen soll. Wie schon bei iPhone und Apple Watch muss Apple das aber noch gar nicht wissen. Apple hat eine komplett neue technische Plattform geschaffen, was die Nutzer daraus machen werden, wird sich zeigen.
Auch die eigentliche „Killer-App“ werden Programmierer, Gestalter und Filmstudios vielleicht erst entwickeln. Kaufen die Menschen sie in den nächsten Jahren, um Büroprogramme und Zoom-Calls zu nutzen? Vielleicht wird aber auch das Gaming revolutioniert? Denkbar sind ebenso Einsätze in Schulungen, Fitness mit virtuellem Trainer oder gar Erotik – vielleicht wird sie ja bei Onlyfans-Nutzern ein Hit?

IDG
Die neue Datenbrille kann nicht nur einfach VR-Welten darstellen, was viele bisher noch als die Hauptaufgabe von herkömmlichen Konkurrenten gewöhnt ist. Apple Vision Pro kann so gut wie jedes Gerät mit Bildschirm ersetzen: Einen Mac, ein portables Notebook, aber auch einen Fernseher: Mancher wird damit mit seinen herkömmlichen Arbeitsprogrammen wie Word, Excel und Final Cut Pro arbeiten, und Videokonferenzen abhalten.
Zugleich ist die Brille aber nicht nur für die Arbeit gedacht, sondern dient der Unterhaltung. Sie eignet sich hervorragend zum Abspielen von 2D- und 3D-Videos, aber auch als Gaming-Plattform.
Fünf Einsatzszenarien:
Auch in der Macwelt-Redaktion gehen die Meinungen auseinander, ob der Einsatz eher im Konsum oder in der Produktion von Inhalten liegen wird. Fast jeder in der Redaktion nannte in einer Redaktionskonferenz einen anderen „Unique Selling Point“. Wir gehen hier im Detail auf unsere Wünsche und Vorstellungen ein:
Mobile Workstation mit Privatsphäre
Da ich beruflich viel reise, basiert mein bisheriger Arbeitsplatz auf einem Macbook Pro 16 Zoll. Das passt noch bequem in einen Rucksack und ist leistungsstark genug, um mir überall, wo ich es aufklappe, gute Arbeitsbedingungen zu bieten. Doch gerade die Visualisierung ist ein Problem. Als Zweitbildschirm muss ein relativ kleines iPad Pro herhalten, das Arbeiten mit mehreren großen Bildschirmen ist in einem mobilen Szenario bisher nicht möglich.
Auch lange Flüge lassen sich nur eingeschränkt zum Arbeiten nutzen, sofern Personen aus dem unmittelbaren Umfeld keine Einsicht in die Inhalte auf dem Bildschirm haben sollen. Diese Probleme lassen sich mit der Vision Pro nahezu perfekt lösen. Egal, wo man sich befindet – die Vision Pro konstruiert auf Wunsch gleich mehrere große Bildschirme und projiziert sie in die Realität oder eine komplett virtuelle Umgebung. Damit lässt sich selbst auf Reisen ein Arbeitsumfeld erzeugen, das sich auf konventionelle Weise mit physischen Monitoren kaum oder nur mit enormem Aufwand abbilden lassen würde. In jedem Fall sind alle Dokumente, Quellcode oder sonstige Inhalte nur für mich einsehbar – neugierige Blicke werden effizient abgeschirmt.
Das Konzept ist so revolutionär, dass ich manchmal fast vergesse, dass die Vision Pro dabei ein vollwertiger Mac ist, dessen leistungsstarke M2-CPU sogar noch von einem zusätzlichen Coprozessor für die Verarbeitung der Sensordaten entlastet wird. Für mich sind das tolle Aussichten auf ein faszinierendes neues Apple-Produkt, das die bisherigen Grenzen des mobilen Arbeitens sprengt.
Vision Pro ersetzt das Heimkino
Bisher kann ich es mir nicht vorstellen, Safari-Recherchen per Datenbrille durchzuführen oder Macwelt-Artikel mit einer virtuellen Word-Version zu schreiben. Die Vision Pro kann zwar im „Mac-Modus“ mehrere externe Computerbildschirme ersetzen, aber zwei 4K-Monitore kann ich mir bei Bedarf einfach auf meinen Schreibtisch stellen. Faszinierend finde ich aber die Möglichkeiten, die eine Vision Pro im Bereich Film und Unterhaltung leisten wird. Die Vorstellung der Brille hat bei mir bereits eine erste Konsequenz: Eigentlich wollte ich gerade meinen alten Sony-Fernseher durch ein größeres und höher auflösendes Modell ersetzen – das werde ich aber verschieben, bis ich die Vision Pro getestet habe.
Vor allem die Zusammenarbeit mit Disney gibt mir zu denken, kam doch sogar der Disney-CEO persönlich auf die Bühne, um Disney+ für die Vision Pro anzukündigen. Das ist wohl einiges geplant? Unter Umständen behebt die neue Vision Pro für mich ein Problem, das auch ein mehrere tausend Euro teurer High-End-Fernseher nicht lösen kann: Wie erhalte ich in einer Münchener Mietwohnung ein richtiges Heimkino mit großem Bildschirm, das Surround-Sound liefert, aber kein komplettes Zimmer belegt?
Hier könnte die Vision Pro etwas Neues bieten: Was die Brille von allen anderen Konkurrenten unterscheidet, ist die hohe Auflösung der zwei internen OLED-Displays. Dank 23 Millionen Pixeln ist die Bildqualität nach übereinstimmenden Meinungen atemberaubend, auch ein 3D-Film wie „Avatar“ wird dadurch Heimkino-tauglich. Nicht zu unterschätzen sind aber die Möglichkeiten bei herkömmlichen 2D-Videos (also allen anderen Filmen und Serien): Die Videos werden nicht nur mit 4K-Auflösung angezeigt, HDR wird unterstützt und 3D-Audio bringt Kinoton auf die Ohren. Safari werde ich wohl weiter eher per iPad und Mac benutzen, ich kann mir aber gut vorstellen, eine neue Folge von „The Mandalorian“ oder „Guardians of the Galaxy“ auf der Vision Pro zu sehen.
Allerdings werde ich wohl auf die „Vision“ warten, das günstigere Nachfolgemodell, das Apple sicher schon längst fertig hat.
Haste Töne?
Wenige Wochen vor der WWDC hatte Apple endlich Final Cut Pro und Logic Pro für das iPad Pro herausgebracht – für professionelle Cutter und Musiker sicher ein gutes Angebot. Man muss sich nicht immer im Studio an den Mac begeben, um dem Projekt noch schnell etwas hinzuzufügen oder etwas zu korrigieren. Nicht auszuschließen, dass einige Arbeiten künftig komplett am iPad Pro entstehen, zumindest damit beginnen.
Etwa zur gleichen Zeit machten sich auch Gerüchte breit, Apple würde Logic und Final Cut auch für seine kommende Brille anbieten – das hat Apple bisher nicht bestätigt, doch zumindest scheint der Konzern an einer Version seiner Videoschnittsoftware für das Headset zu arbeiten. Von Logic hat man noch nichts gehört, das kann aber noch werden: In meiner Fantasie verbindet die Apple Vision das Beste aus zwei Welten: Musiker und Produzenten sitzen zwar recht bequem auf dem Sofa und nicht bucklig vor dem Rechner, haben aber alle Tools vor Augen und den besten Sound auf den Ohren. Ob das echte Profis als Arbeitsumgebung annehmen, wird sich indes zeigen.
Meine Fantasie geht aber noch einen Schritt weiter: Denn wie ist das mit der virtuellen Mac-Tastatur, die man gewissermaßen aus der Luft bedient? Klar, hat noch weniger haptisches Feedback als eine solche auf dem iPad, nämlich gar keines. Und wer wirklich Klavier spielen kann und nicht ab und an die richtige Taste trifft, so wie das bei mir der Fall ist, der will auch Widerstand beim Anschlag des Tones spüren. Aber Luftklavier mit Logic Pro klimpern? Ein Traum!
Ich setze aber noch einen drauf: Luftgitarre. Okay, das ist vielleicht eins drüber, aber man stelle sich nur mal vor, man könne in Logic Pro, Garageband oder einem anderen Programm sich zur Toneingabe eine virtuelle Gitarre beliebiger Bauart in die echten Hände projizieren lassen. Kein Problem mehr mit zu harten oder zu weichen Saiten, angenehmer Griff, da das Halsprofil immer stimmt. Aber natürlich auch keinerlei haptisches Feedback und wenn die Latenz für die Ohren nicht in die Bereiche für die Augen (12 Millisekunden!) sinkt, würde das überhaupt nicht funktionieren. Aber wer weiß, vor 2025 wird es die Apple Vision kaum in Deutschland geben, bis dahin könnte die beinahe echt klingende Luftgitarre real werden. Und wenn Apple dann die virtuelle Version von Craig Federighis Triple-Neck-Gitarre aus der Keynote als In-App-Kauf anbietet, bin ich natürlich nicht mehr zu halten.
Bessere Avatare dank Vision Pro
Apple hat auf der WWDC gezeigt, wie das Unternehmen sich die Zukunft der Videokonferenzen vorstellt: Die Videoübertragung wird in die Umgebung platziert, als ob sich die Menschen direkt bei einem im Wohnzimmer begegnen. Dazu kann man eigene Avatare erschaffen, die deutlich besser aussehen, als alles, was bislang Mark Zuckerberg gezeigt hat. Die wichtigste Eigenschaft von diesen neuen digitalen Abbildungen Apples ist, sie sehen natürlich und nicht so unheimlich aus wie die von Meta.
Dafür habe ich eine potenzielle Anwendung, die sich Apple wahrscheinlich etwas anders vorgestellt hat. Ich habe in der Ukraine eine Nichte von sechs und einen Neffen von zwei Jahren. Bei den meisten Videotelefonaten langweilen sie sich und laufen weg, es sei denn, ich zücke die Geheimwaffe, nämlich die Animojis. Die Cartoon-Tiere und -Menschen strecken die Zunge aus, so wie Sie es tun, schütteln mit dem Kopf, das Einhorn will mit seinem Horn ein Loch in das Display piksen, der Hund bellt, die Katze miaut. Und alles das geschieht interaktiv und im Gespräch, kein Zeichentrickfilm kann sich damit messen.
Mit den Avataren kann man bei künftigen iOS- und visionOS-Versionen diese Erfahrung auf Ganzkörperfiguren übertragen. Ich stelle mir schon vor, wie ich vor meiner Nichte als Lady Bug erscheine und durch die Wohnung bei mir hüpfe, sodass sie ihren Lieblingscharakter in Echtzeit und interaktiv bei sich erleben kann. Oder, wo wir schon bei den Zeichentrickfilmen sind, schlüpft sie in einen Avatar einer Disney-Prinzessin und kann selbst in einem Zeichentrickfilm mitspielen, das alles nimmt Vision Pro als 3D-Video auf.
Würde Apple mit seinen Avataren diesen Schritt in Richtung einer kleinen Entfremdung gehen, würde sich der Kreis schließen. Schließlich kann man in Games schon lange Ausrüstung und Kleider für seine Avatare auswählen, diverse Apps tummeln sich im App Store, die das eigene Aussehen verändern können. Was bislang noch fehlt, ist die Übertragung dieser Technologien in Echtzeit und eine Verbindung mit dem konkreten Nutzer oder konkreter Nutzerin, also eine klassische AR-Anwendung.
Ein Traum für Kreative
Wer in Adobe Premiere Pro oder Photoshop in großen Projekten gearbeitet hat, weiß ein aufgeräumtes Bildschirm-Setup zu schätzen. Die Vorstellung der Vision Pro war wie ein feuchter Traum für jeden Kreativen. Nicht nur, dass die Brille im Vergleich zu Konkurrenz-Produkten bequemer, hochwertiger und stylischer wirkt (auch wenn man immer noch so aussieht, als würde man eine überteuerte Taucherbrille tragen), das Betriebssystem und die damit einher kommenden Funktionen haben es mir besonders angetan.
Die Vorstellung, das Schnittfenster, den Programmmonitor, die Fenster für Effekte und Effekteinstellungen um mich herum im Raum schweben zu lassen, hat mich sofort begeistert. Gleiches gilt für Photoshop: Wie wäre es wohl, wenn ich meine Bilder fortan im Maßstab 1:1 bearbeiten könnte?
Ich gehe aber noch einen Schritt weiter und träume von einer Möglichkeit wie Kollege Müller – Stichwort “Luftgitarre”. Das Schneiden und Bearbeiten von Videos oder Fotos könnte noch intuitiver werden, könnte man die Finger benutzen, um Schnitte oder Blenden zu setzen, Effekte anzuwenden oder Masken zu bearbeiten. Und alles nur mit einem Fingerschnippen.
Gut, vielleicht stellt sich die Vision Pro auch als ein Albtraum für jeden Kreativen heraus, ist das Schneiden mit den eigenen Gliedmaßen vielleicht etwas zu sportlich gedacht und nur in der Theorie eine tolle Idee. Ich kann die Praxis jedenfalls kaum erwarten!