Da Macromedia inzwischen Freehand 9 vorgelegt hat, war klar, dass Adobe beim Konkurrenzprodukt Illustrator demnächst ebenfalls eine neue Version auf den Markt bringen wird. Spätestens im Sommer soll Illustrator 9 in den Handel kommen, für diesen Vorabtest steht uns eine englische Betaversion zur Verfügung.
Vergebens sucht man in der Oberfläche zunächst nach neuen Werkzeugen, erst auf den zweiten Blick fallen in der entsprechenden Palette die zwei Lassowerkzeuge ins Auge. Diese Auswahlhilfen funktionieren ähnlich wie ihr Pendant in Photoshop: In Illustrator 9 genügt künftig auch ein Mausklick, um mehrere unregelmäßige Objekte beziehungsweise Teile eines Objektpfades auszuwählen. Sehr erfreulich wirkt außerdem, dass man mit dem Programm den meisten Befehlen und Werkzeugen eigene Tastaturkürzel zuweisen kann. Das klappt im Test wunderbar, doch fehlt die Funktion für die Verschiebehand. Gerne würden wir sie wie in Quark Xpress auf die Wahltaste legen und nicht auf die Leertaste, was bekanntlich die Texteingabe erschwert. Beim Thema Text gibt es ebenfalls Licht und Schatten. Im Einstellfenster für die Textoptionen hat man zwar die Möglichkeit, die Transparenz einzelner Buchstaben innerhalb eines Textblockes zu ändern. Schmerzlich vermissen wir darüber hinaus Stilvorlagen für Textobjekte. Wenn man das Aussehen mehrerer Texte vereinheitlichen möchte, besteht wie bisher nur die Möglichkeit zur Aktionenpalette zu greifen. Dort muss man sich dafür einen Makrobefehl schaffen, der einem Textobjekt die gewünschte Formatierung zuordnet.
Eine Art von Stilvorlagen finden wir dagegen an anderer Stelle. “Live effects” nennt Adobe Voreinstellungen, die sich speichern und einem anderen Objekt zuweisen lassen. Zu diesen Voreinstellungen zählen die Objektfüllfarbe, die Umrissfarbe, der Farbverlauf und das Mustern. Effekte wie Schlagschatten, Filter, Transparenz, Vereinigungsmodi mehrerer Objekte und die Zahlenwerte für Raumtransformationen, beispielsweise den Neigungswinkel gehören außerdem dazu. Soll diese Wertefülle einmal auf die Schnelle von einem Objekt auf ein anderes übertragen werden, greift man in Illustrator 9 zur Pipette, die alle oder nur einige ausgewählte dieser Werte überträgt.
Deutlich überarbeitetet stellt sich die Ebenenpalette dar. Sie zeigt jetzt zu jeder Ebene ein Symbol mit deren Inhalt. Braucht man den genauen Überblick, kann man diese Ansicht verfeinern und sich sogar die Objektgruppen auf einer Ebene mit allen Einzelelementen einblenden lassen. Wer Illustrator-Objekte animieren oder generell die Objekte jeweils auf einer eigenen Ebene platzieren will, greift zum Befehl “Release to layers”. Dieser befindet sich in einem Aufklappmenü oben rechts in der Ebenenpalette. Hält man bei diesem Befehl die Hochstelltaste gedrückt, bekommt man eine größere Kontrolle über diese Verteilungsfunktion. In unserem Beispiel überführen wir einen Kreis in einen Stern und packen die Mischformen anschließend jeweils auf eine eigene Ebene. Damit das Ganze später etwas dynamischer wird, erzeugen wir mit gedrückter Hochstelltaste noch einmal Einzelebenen. Dabei enthält die erste Ebene nur den Kreis, die zweite aber den Kreis und die erste Mischform und so weiter. Unsere Animation wird zu einer sanften Überblendung, wenn man die Transparenz der jeweiligen Formen ändert.
Einen weiteren Schwerpunkt bei den Neuerungen bilden Effekte aller Art, die man Ebenen beziehungsweise Objekten oder Texten zuweist, wobei die Ebene, das Objekt oder der Text sich weiter editieren lassen. In unserer Testversion funktioniert das mit Bitmap-Objekten zwar nicht, weil sich das Programm dann stillschweigend verabschiedet, doch bis zur Fertigstellung dürfte das behoben sein. In allen anderen Fällen schaffen wir problemlos ein Basislayout, das sich gut für verschiedene Zwecke umformen lässt. Hat man etwa einmal einen Knopf mit dem Text “Mustang” geschaffen, dann passt sich der Rahmen des Knopfes dem Text an, selbst wenn man wahre Zeilenfüller wie “Mustang Kaugummis” konstruiert. Sogar mit Photoshop-Filtern lässt es sich im Text realisieren: Selbst als wir einem Textblock mit dem Zig-Zag-Filter eine leicht japanische Anmutung verleihen, können wir ihn ohne weiteres noch nachträglich ändern.
Recht schöne Ergebnisse liefert die Funktion, die zwischen Objekt und Hintergrund einen sanften Übergang schafft, vergleichbar einem selektiven Weichzeichner. Laut einem internen Adobe-Papier soll diese auf Deutsch “Zerfaserung” heißen, “Überblendung” wäre wohl weniger irreführend. Die Möglichkeit, Objekte als Maske für andere Objekte zu verwenden, erscheint uns sehr gelungen. In Version 9 der Software ist man dabei nicht auf Vektorobjekte beschränkt, die Funktion lässt sich auch bei Verläufen, Mustern und sogar Rasterbildern ausführen. Exportiert man solche Transparenzmasken als Photoshop-Datei, bleiben die Masken erhalten und man kann sie in Photoshop weiterbearbeiten. Auch der umgekehrte Weg funktioniert im Test reibungslos.
Was die Zusammenarbeit mit Photoshop betrifft, meldet Adobe noch mehr Fortschritte. Denn beim Export nach Photoshop kann man Text weiterhin editieren.
Beim Farbmanagement herrscht eitel Sonnenschein über der gesamten Adobe-Produktpalette. Legt man ein Bitmap-Bild mit einem Geräteprofil in Photoshop an, dann hält sich dieses Profil auch nach dem Import in Illustrator. Legt man umgekehrt ein Bild mit dem Farbmanagement von Illustrator an, wird das Ausgabeprofil beim Export mitgespeichert, so dass die Farben in TIFF- oder Photoshop-Dateien in beiden Programmen identisch sind. Was die Farbkontrolle betrifft macht sich die verbesserte Vorschau für Überfüllungen gut, die sogar die Randbereiche von Sonderfarben genau ausleuchtet.
Zu guter Letzt hat Adobe weiter an Funktionen für Internetgrafiken gebastelt. Damit man schon während der Zeichnerei eine bessere Vorstellung davon bekommt, wie die Grafik später im Browser wirkt, gibt es eine Rastervorschau. Dazu passend kann man die Farbpalette soweit reduzieren, dass nur noch die 216 Nuancen wählbar sind, die im Internet ohne störende Rastereffekte angezeigt werden (“web-safe colors”) Der Flash-Export hat deutlich zugelegt, Illustrator exportiert die einzelnen Grafikebenen jetzt als eigenständige SWF-Dateien oder auf Wunsch auch als Einzelszenen in einerSWF-Datei.
Fazit
Illustrator 9 läuft runder als der Vorgänger, die Arbeit geht uns oft flotter von der Hand als bisher. Wem dieser Produtivitätsgewinn den Preis von rund 450 Mark wert ist, dem können wir (fast) uneingeschränkt raten, das Programm zu kaufen, da sich die uns vorliegende Betaversion ziemlich gutmütig verhält. In einer der nächsten Ausgaben ist ein direkter Vergleich mit Freehand 9 vorgesehen. Darin wird sich zeigen, welches der beiden komplexen Zeichenprogramme für Einsteiger geeignet ist, oder ob sie mit einem anderen Produkt wie Canvas von Deneba besser bedient sind. wm
Illustrator zeigt lediglich mit einem winzigen Symbol in der Palette “Inspektor” an, dass dieser Text mit einem Effekt verändert wurde.
Exportiert man eine Grafik mit mehreren Ebenen als Flash-Datei, dann verknüpft Illustrator die Ebenen auf Wunsch zu einer Animation.
Direkt neben dem Menüpunkt Filter findet man den stark erweiterten Punkt Effekte, der ganz neue Veränderungsmöglichkeiten für Ebenen, Texte oder Objekte bietet.
Ein vollständiges und gut funktionierendes Farbmanagement zieht mit Version 9 in Illustrator ein.