
Ist das wirklich schon 33 Jahre her, dass der Musikkritiker Jon Landau den jungen Springsteen und seine Band, die einen unvergleichlichen Sound mit kratzenden Gitarren, pointierten und verschwitzten Rhythmen, angestrengter Schweineorgeln und spuckenden Saxophonklängen jenseits des Jazz und Soul geschaffen hatten, lobte: „Ich habe die Zukunft des Rock’n Roll gesehen. Und sie heißt Bruce Springsteen.“ Das ist in der Tat 33 Jahre her, es war 1974 und Bruce Springsteen war nur noch ein Jahr vom Durchbruch mit „ Born To Run “ (iTunes-Affiliate-Link) entfernt.
Ist es wirklich schon 23 Jahre her, dass ein bis dato wenig politischer Bruce Springsteen mit „Born In The USA“ eine kaum vom Schock der Niederlage in Vietnam erholte Nation ob ihrer Überheblichkeit scharf kritisierte, was aber weite Kreise als patriotische Hymne und Verherrlichung ihres Landes missverstanden? Das ist in der Tat 23 Jahre her, es war 1984, das Album „ Born In The USA “(iTunes-Affiliate-Link) produzierte einen Hit nach dem anderen und die E-Street-Band füllte weltweit die Stadien.
Ist es wirklich schon sechs Jahre her, dass in New York die Zwillingstürme einstürzten, nicht nur die Menschen auf der „Jersey-Side“ des Hudson fassungslos auf die Rauchwolken starrten, und der Legende nach kurz darauf ein Passant dem in Folk-Experimente abgetauchten Springsteen zurief: „Bruce, wir brauchen dich!“, woraufhin der Boss seine alten Kumpanen der E-Street-Band zusammentrommelte und Fassungslosigkeit, Trauer, Unverständnis und Mut in Worte und Musik des Albums „ The Rising “(iTunes-Affiliate-Link) goss? Das ist in der Tat sechs Jahre her, es war 2001 und der Boss war wieder mit Stevie van Zandt, Clarence Clemons, Nils Lofgren, Roy Bittan und den anderen vereint.
„ Magic “(iTunes-Affiliate-Link) klingt und wirkt selbstverständlich anders als „Born To Run“, „Born In The USA“ und „The Rising“, doch der Sound der E-Street-Band und die Stimme des Boss sind derart unverwechselbar, dass stets das Gesamtwerk als Konnotation durch die Zeiten mitschwingt.
Wieder einmal befasst sich „Magic“ mit Amerika, anders als 2002 nicht mit der überraschten und ratlosen Nation, sondern mit einem ernüchternden Land, sechs Jahre nach Kriegsbeginn. Springsteen erzählt lapidar die kleinen Tragödien in den großen Wirren, das war schon bei „The Rising“ der Fall und setzt sich auf „Magic“ fort. Anders als das Vorgängerwerk richtet sich der Blick diesmal auf die Provinz, auf die in die Kleinstädte mit ihren Feuerwehrhäusern aus rotem Klinkerstein zurückgekehrten oder dort zurückgelassenen an Leib und Seele Versehrten. Man muss den Präsidenten nicht direkt ansprechen wie P!nk, um die Folgen fataler Entscheidungen zu zeigen, es genügen verzweifelte Blicke des verzweifelten lyrischen Ich, das frustriert und unbeachtet die Mädchen in ihren Sommerkleiden bewundert („ Girls in Their Summerclothes “(iTunes-Affiliate-Link)) und sich wenigstens über seine noch vorhandenen Beine freut oder der Bruder des gefallenen Bikers, der den in einer Holzkiste heimgekommenen „Gypsy Biker“ verabschiedet und ihm ewige Bruderliebe schwört.
Springsteens „Magic“ klingt keineswegs verzweifelt, eher in sich gekehrt, auf das Provinzielle, auf den Kern, auf die Heimat konzentriert. „Is there anybody out there alive?“ fragt das letzte Leuchtfeuer „ Radio Nowhere “(iTunes-Affiliate-Link) des in die Jahre gekommenen Rock’n Roll in den Äther. Doch, da draußen hört noch jemand zu, wenngleich die Rezipienten eher an die Vergangenheit denken, wenn sie „ Livin’ In the Future “(iTunes-Affiliate-Link) hören, das in den ersten Takten so verdammt nach „10th Avenue Freeze Out“ klingt, dass man sich in der Zeitschleife gefangen fühlt. Und jetzt? Weggehen? Wie 1984 in „ My Hometown “(iTunes-Affiliate-Link) geschildert? Nein, man ist ja gerade erst angekommen nach seinem „ Long Walk Home “(iTunes-Affiliate-Link). „Here everybody has a neighbor / Everybody has a friend /Everybody has a reason to begin again / My father said “Son, we’re lucky in this town / It’s a beautiful place to be born. / It just wraps its arms around you / Nobody crowds you and nobody goes it alone“, heißt es da, und weiter, dass gewisse Dinge eben in Stein gemeißelt sind und alles darüber aussagen, wer wir sind.
Ob der ratlose weiße Mann aus den zerfallenden Industriestädten der Stahlreviere Bruce Springsteen und die E-Street-Band wirklich braucht, sei dahingestellt. Solange aber niemand lapidarer die Geschichte von unten erzählt und dabei einen zeitlosen, stilbildenden Sound fabriziert, der von aufgelassenen Fabriken und verzweifelten Familien erzählt, gibt es zum Boss keine Alternative. Die nächste Platte wird er vermutlich wieder ohne die E-Street-Band aufnehmen.