Bisher war man auf das Urteil mehr oder weniger renommierter Musikjournalisten angewiesen. Während Alexander Gorkow für die Süddeutsche Zeitung das heute veröffentlichte Album ” The Endless Rive r” von Pink Floyd als einen “unter die Haut gehenden Schlussakt” in den höchsten Tönen lobt, hält Roderich Fabian (BR) das Werk für eine “Resterampe” mit reichlich Gitarrengegniedel.
Jetzt kann sich jeder selbst ein Urteil bilden. Dazu müsste man aber das Album kaufen, bei iTunes etwa für 10,99 oder für 15,99 Euro, in der Deluxe-Version mit einigen Videos als Bonusmaterial. Für die Restband (Nick Mason, David Gilmour) und die Erben von Richard Wright sowie vor allem für Warner Music dürften sich die über Monate anhaltenden Vorberichte gelohnt haben: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird “The Endless River” das bestverkaufte Musikalbum des Jahres.
Aber selbst wenn Pink Floyd mehr als 45 Millionen Exemplare auf Vinyl, CD oder als Download verkaufte und damit mehr als von ” Darkside Of The Moon “, wären diese Zahlen für die Gesamtindustrie nur Kosmetik. Noch bis vor kurzem drohte der US-Plattenindustrie ein Jahr ganz ohne Album mit Platin-Status, der ab einer Million Verkäufe gilt, ehe die Country-Sängerin Taylor Swift von ihrem Pop-Debüt 1989 schon am ersten Wochenende über eine Million Exemplare verkauft hat. Lediglich der Soundtrack des Disney-Films ” Frozen ” hatte in diesem Jahr schon mehr als eine Million Verkäufe gezählt, aber das war ja ein Selbstläufer.
Sei es auf CD, Vinyl oder als Download: Musik-Alben verkaufen sich nicht mehr.
Wer den schwarzen Peter hat
Natürlich ist “das Internet” an der Misere der Plattenindustrie schuld. Sagt die Plattenindustrie. Seitdem Kompressionsverfahren wie MP3 und allmählich schneller werdende Leitungen die digitale Kopie von Musik in der zweiten Hälfte der Neunziger erleichterten, hat die Musikindustrie mit Umsatzschwund zu kämpfen. Spät, womöglich zu spät, erkannten die Bosse der auf nur noch auf vier große Firmen (Sony BMG, Universal, Time Warner und EMI) geschrumpften Branche neue Vertriebswege – zu einem Angebot wie dem iTunes Music Store musste selbst der Charismatiker Steve Jobs die Rechteinhaber mit Engelszungen überreden.
Natürlich ist die Plattenindustrie an der Misere schuld. Sagt “das Internet”. Also jene Musikfreunde, die im Netz legale, halblegale und illegale Quellen für sich entdeckten, aus denen sie handverlesen ihre Musik schöpfen konnten. Wer heute einen bestimmten Song selbst besitzen will, um ihn sich immer und immer wieder anhören zu können, zahlt etwa einen Euro dafür – oder eben gar nichts. Zu den Zeiten, als Pink Floyd seine großen Alben veröffentlichte, musste man schon die ganze Platte kaufen – für 20 Mark oder mehr. Leider haben in den für die Industrie goldenen Siebzigern, Achtzigern und frühen Neunzigern aber nicht nur Bands wie Pink Floyd Platten pressen lassen, die man am liebsten in Endlosschleife den ganzen Tag hört. In den Charts tummelten sich auch scharenweise LPs und CDs, auf denen womöglich der ein oder andere ganz annehmbare Song war. Den hätte man auch gerne in besserer Qualität gehabt als den Radiomitschnitt auf Kassette, bei dem entweder der Moderator reinplappert oder plötzlich vorzeitig die Werbung einsetzt. Bei dem ein oder anderen interessanten Song blieb es auf diesen Alben aber selbst nach mehrmaligem Hören, der Rest war uninteressantes Füllmaterial, die 20 Mark dennoch futsch. Und mit der Zeit bekam man den Eindruck, dass Alben der Pink-Floyd-Klasse seltener wurden, die lieblos produzierte Massenware aber immer mehr. Das Internet mit seinen illegalen Tauschbörsen, den legalen Downloadstores und der halblegalen Musikquelle Youtube löste ein Problem, von dem die auf Rendite fixierten Plattenbosse nicht einmal etwas ahnten. Kein Wunder, dass heute vor allem der mit der neuen Technologie aufgewachsene Nachwuchs kaum noch Alben kauft – auf die paar interessanten Songs hat man immer und überall Zugriff, sofern ein WLAN offen ist.
Natürlich sind die Künstler an der Misere schuld. Sagt die Plattenindustrie und sagt auch “das Internet”. Es ist eben weit und breit kein neues Pink Floyd zu finden, oder ein neues AC/DC. ( Die bringen auch noch im November ein neues Album , wenngleich der Rhythmusgitarrist Malcolm Young aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mitwirken kann.) Immerhin melden sich auch die Foo Fighters zurück und wer lieber unverständliche deutsche Sänger hört, freut sich auf das neue Grönemeyer-Album . Sogar Prince, dem keiner seine 56 Jahre abnimmt, brachte im Herbst gar zwei neue Werke heraus . Die Musikindustrie muss sich anscheinend auf die Alten verlassen, Junge kommen kaum nach. Wie auch? Nachwuchsmusiker können heutzutage nur noch davon träumen, sich mit Albumverkäufen über Wasser zu halten, als die heute Alten jung waren, galt ein lukrativer Plattenvertrag als Rentenversicherung. Neue Musik lässt sich zudem nur schwer entdecken – im Formatradio dudeln landaus, landein immer die selben 20 Stücke in Dauerrotation (von spät abends gesendeten Ausnahmen einmal abgesehen) und der Plattenladen mit kompetenten Mitarbeitern, die Empfehlungen geben, auf die man sonst nie gekommen wäre, ist längst ausgestorben. Wobei der Plattenladen aus Nick Hornbys Roman “High Fidelity” eher eine Ausnahmeerscheinung war – wir dürfen die Vergangenheit nicht verklären. Heute geben beim Finden von Musik Algorithmen den Ton an: “Wer diese CD kaufte, kaufte auch jene” heißt es hier oder “Genius-Empfehlungen aufgrund ihrer jüngsten Einkäufe” dort. Amazon und Apple wollen uns nun also sagen, was wir hören sollen. Dabei ist es den Unternehmen an sich egal, was wir kaufen, Hauptsache, wir kaufen viel davon. Einzelne Songs oder besser noch Alben. Aber ob uns das gefällt oder auf diese Art und Weise eine Band, die das Zeug zum “neuen Pink Floyd” hätte, überhaupt eine Chance hat? Bleibt Pessimisten nur die Hoffnung, dass “The Endless River” doch nicht das letzte Wort war. 70 ist heutzutage ja kein Alter mehr und David Gilmour soll ja für die Reprise die Arbeit an einem neuen Solo-Album unterbrochen haben.
Wege aus der Misere
Ein weiterer Grund für den Umsatzschwund der Plattenindustrie sind Streamingdienste wie Spotify, die pro gestreamten Song nur Bruchteile eines Cents an die Künstler überweisen. Da zahlt die GEMA weit besser. Taylor Swift hat dieser Tage die Konsequenz gezogen und ihren Vertrag mit Spotify gekündigt – oder von ihrer Plattenfirma kündigen lassen. Für Musik solle man weiterhin bezahlen, meint die Sängerin. Dem stimmt prinzipiell auch Trent Reznor – Mastermind der Nine Inch Nails zu. Doch in einem Interview mit dem Fachmagazin Billboard meint Reznor resigniert, die Ära der Bezahlmusik sei vorbei. Musik ist zu einem beliebigen Gut ohne Wert geworden.
Reznor könnte aber eine entscheidende Rolle dabei spielen, wenn der Markt erneut umgekrempelt wird und Musik vielleicht doch wieder einen Wert bekommt, den Hörer gerne zahlen. Bei dem von Apple im Mai übernommenen Streamingservice Beats Music war Reznor “Chief Creative Officer”, seine jetzige Rolle bei Apple ist nicht bekannt. Doch verrät Reznor in dem Interview, er habe von Apple Aufträge für “neue Produkte” erhalten – mehr darf er nicht sagen. Schon im September hatte es aus einer anderen Ecke des Musikgeschäfts gemunkelt, dass Cupertino an neuen Dingen bastle. Zusammen mit Apple wolle man ein neues Format entwickeln, das Musikalben wieder stärke, verriet U2-Frontmann Bono dem Time Magazine . Die eigene Strategie, ein neues Album ungefragt den iTunes-Nutzern in die Einkaufsliste zu legen, kann er damit kaum gemeint haben. U2 haben sich für die Aktion, die viele Musikhörer für einen Faux Pas hielten, entschuldigt. Auch Trent Reznor kann dem nichts abgewinnen, dennoch müsse man Wege finden, dem geneigten Publikum klar zu sagen, was es Neues gebe. U2s Brachialmarketing blieb aber nicht ohne Erfolg: Würden “einmal reinhören” und “einfach mal das Geschenk downloaden und vielleicht später löschen” in die Verkaufsstatistik eingehen, wären die ” Songs of Innocence ” in der Liste der zehn meist verkauften Alben der Geschichte gelandet. Angeblich bis zu 35 Millionen Downloads habe man gezählt, das Werk käme dann in Bereiche von Fleetwod Macs ” Rumours ” und dem ” Saturday Night Fever ” der Bee Gees (jeweils 40 Millionen Verkäufe). Wie viel Apple dafür gezahlt hat, ist nicht bekannt, die gesamte Aktion soll aber rund 100 Millionen US-Dollar gekostet haben. Musik für die Massen, künftig nur noch von Firmen bezahlt?
Empfehlungen, an denen man nicht vorbei kann
In Zeiten der musikalischen Beliebigkeit, psychoakustischer Kompression und quäkender Smartphone-Lautsprecher feiert Vinyl seine Wiedergeburt. Nicht von ungefähr gibt es das neue Pink-Floyd-Werk auch als echte Schallplatte, in dieser Woche feiert der Fachhandelsverband Aktiv Musik Marketing Musikfans die ” Woche des Plattenladens “. Nur wird es heute nicht mehr verziehen, wenn auf dem 20 Euro kostenden Album nur ein annehmbarer Song zu finden ist und ansonsten Schrott. Vinyl wird aber ebenso wie der zugehörige Plattenladen weiter ein Nischendasein führen, die Frage ist, wie der digitale Plattenladen wieder mehr Lust auf Einkäufe machen kann. Die Haptik einer LP oder wenigstens einer CD und die Optik von Cover-Kunstwerken, die ihre Großartigkeit erst dann entfalten, wenn man auch die Rückseite betrachtet – mit der iTunes LP hat Apple derartiges bereits versucht, ohne nennenswerte Folgen.
Dem Musik-Album wird nur ein kompletter Maßnahmenkatalog wieder auf die Beine helfen. Mehrwert für Downloads, geschmackssichere Empfehlungen, weniger Formatradio und mehr Mut zu sperrigen Werken, die man nicht zum Bügeln hören kann. Und Vorschüsse, in Form von Vertrauen und Kapital. Ein neues Gesamtkunstwerk wie Pink Floyd wird sich nicht mit Centbruchstücken aus Streaminggebühren finanzieren lassen.