Apple muss sich mit einem Verkaufsverbot gegen iPhone 7 und 8 (sowie theoretisch auch das iPhone X, das aber Apple selbst beim Generationswechsel aus der Vermarktung nahm) herumschlagen, das das Landgericht München I im Dezember verhängte und der Chiphersteller Qualcomm seit Anfang Januar gegen eine Sicherheitsleistung von über 1,3 Mrd. Euro vollstrecken lässt.
Mittlerweile ist nach menschlichem Ermessen davon auszugehen, dass die angegriffenen Geräte das eingeklagte Qualcomm-Chippatent überhaupt nicht verletzen. Gestern erging bereits der zweite Richterspruch in USA – unabhängig vom ersten – in einem dortigen Parallelverfahren, wonach keine Verletzung vorliegt. Es wurde sogar genau das Hauptargument, das Apple in München vortrug, das Gericht aber nicht untersuchen wollte, bestätigt: es fehlt zur Verletzung an einem so genannten Offset-Strom, der im Zentrum der technischen Lehre des Klagepatentes steht.
Ein Problem des Verfahrens
Der Grund, warum man in USA nun schon zweimal zu Gunsten von Apple, in München aber in Qualcomms Sinne entschieden hat, liegt nicht in Unterschieden im Patentrecht begründet, sondern in den Abläufen: Sowohl die International Trade Commission (ITC), eine Washingtoner Bundesbehörde, die auch Einfuhrverbote für patentverletzende Produkte verhängen darf, als auch das Bundesbezirksgericht für Südkalifornien (also am Firmensitz von Qualcomm, nämlich San Diego) haben die Baupläne des angegriffenen Chips der Firma Qorvo und sachverständige Meinungen zu diesen Plänen vorliegen gehabt; das Landgericht München hat hingegen in seiner eigenen Pressemitteilung vom 21. Dezember 2018 erklärt: “Wie der Chip tatsächlich funktioniert, war zwischen den Parteien streitig, nach Auffassung der 7. Zivilkammer aus zivilprozessualen Gründen gleichwohl nicht aufzuklären. Die Kammer hatte ihrer Entscheidung vielmehr aus prozessualen Gründen zugrunde zu legen, dass der Chip so funktioniert, wie die Klägerin es behauptet.” Weiter erklärte das Landgericht, “die Schaltpläne des angegriffenen Chips” nicht untersucht zu haben.
Die ITC und das Bundesbezirksgericht haben also aufgrund von Fakten entschieden, das Landgericht München I – wenn die US-Entscheidungen inhaltlich richtig liegen, wofür alles spricht – kontrafaktisch. Bildlich gesprochen sitzen das iPhone 7 und das iPhone 8 in Deutschland unschuldig im Gefängnis. Aus langjähriger Beobachtung von Patentprozessen lässt sich sagen: Wenn sowohl die ITC als auch ein unabhängiges (sogar 3.600 km entferntes) Bundesgericht eine Nichtverletzung attestieren, liegen sie höchstwahrscheinlich richtig. Bei der ITC entschied zunächst ein Einzelrichter, das sechsköpfige Spitzengremium der Behörde bestätigte im Dezember seine diesbezügliche Feststellung . Das gestrige Urteil des Bundesbezirksgerichts für Südkalifornien war ein Summary Judgment, das hießt, der zuständige Richter hielt die Angelegenheit für so eindeutig, dass er sie vorab entscheiden konnte und nicht erst den Geschworenen vorlegen musste. Sowohl die ITC als auch die Bundesgerichte in Kalifornien verfügen über Erfahrung aus unzähligen Patentklagen gerade im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationstechnologien.
Obwohl jedes Jahr eine hohe dreistellige Zahl von Patentprozessen in Deutschland stattfindet, dürfte eine derart absurde Situation – Verkaufsverbot trotz höchstwahrscheinlicher Nichtverletzung – ohne Beispiel sein.
Man stelle sich vor, ein Autofahrer würde nach einem Unfall, den in Wirklichkeit der Gegner verursacht hat, nicht anhand echter Beweise verurteilt, sondern nur, weil das Gericht den falschen Vortrag der anderen Partei leichter verstehen konnte als den richtigen und deshalb erst gar keinen Sachverständigen die Unfallautos begutachten ließ, sondern einen Sachverständigen nur befragte, ob es ihm genauso ginge. Selbstverständlich würde nicht nur der Betroffene, sondern auch die breite Öffentlichkeit einen abweichenden Rechtsstaatlichkeitsbegriff haben.
Einsicht in Baupläne unter Bedingungen
Sowohl Apple als auch Qorvo, der Hersteller des so genannten Hüllkurvenverfolger-Chips, wollten das Münchner Landgericht die Chipbaupläne ansehen lassen. Qorvo brachte sogar den Entwickler des Chips mit und ließ ihn fast 12 Stunden auf einer harten Holzbank vor dem Gerichtssaal warten , um als ungeladener Gast im Bedarfsfall sofort aussagen zu können. Aber es gab seitens Qorvo eine Bedingung, über die sich Apple nicht hinwegsetzen konnte: Die geheime Funktionsweise des Chips sollte nur Qualcomms Anwälten, nicht aber Qualcomms Ingenieuren bekannt werden. Denn Qorvo befindet sich teilweise in einer Konkurrenzsituation zu Qualcomm.
Woran scheiterte dann die Vorlage der Tatsachen? Einzig und allein an Qualcomm. Denn obwohl Qualcomm eigens ein sogenanntes Discovery-Verfahren in USA angestrengt hatte, um für den ausdrücklichen Zweck der Vorlage in München die Pläne zu erhalten, und obwohl Qualcomms deutsche Anwälte diese in einem Umschlag mit sich führten, wollten sie, als es in München am 8. November zur Verhandlung kam, keine vertrauliche Behandlung mehr zusichern. Inzwischen ist angesichts der in USA erfolgten Aufklärung des Sachverhalts davon auszugehen, dass sie wussten, sie hätten ansonsten keine realistische Erfolgsperspektive gegen Apple gehabt. Ihre einzige Chance lag darin, dem Münchner Gericht die Fakten vorzuenthalten.
Das grundlegende Problem im Münchner Prozess war, dass das Gericht Qualcomms fehlende Kooperationsbereitschaft mit einem iPhone-Verkaufsverbot belohnte. Dabei war die Art und Weise, wie Qualcomm die Aufklärung sabotierte, mehr als auffällig. Denn dieselbe Anwaltskanzlei, Quinn Emanuel, vertritt Qualcomm sowohl in USA als auch in Deutschland gegen Apple und hatte im besagten Discovery-Verfahren in USA sogar eine Vereinbarung mit Qorvo getroffen, wonach die Chipschaltpläne in München vorgelegt werden dürften, solange nur das Gericht, der vom Gericht bestellte Sachverständige und die Anwälte der Parteien diese zu sehen bekämen. Genau von dieser schriftlichen Vereinbarung nahm Quinn Emanuel aber Abstand, als es ernst wurde. Man sagte, Qorvo müsse entweder seine Geheimnisse offenbaren oder ansonsten solle Apple den Prozess verlieren .
Bei der Urteilsverkündung im Dezember erklärte der Vorsitzender Richter der 7. Zivilkammer des Landgerichts München I, dass in Deutschland eben das Vortragsprinzip gelte. Anders als in USA haben die Gerichte hierzulande keine Befugnis, die Einholung von Beweismaterial anzuordnen. Der Vortrag von Qualcomm sei “substantiierter” gewesen als das Bestreiten der Verletzung durch Apple. Nur ist mittlerweile mit allergrößter Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Apples Bestreiten wahrheitsgemäß und Qualcomms Verletzungsbehauptung eine konstruierte Unwahrheit war. Selbstverständlich hätte das Gericht Qualcomms Anwälte vor die Wahl stellen können, entweder die Vorlage der Chipschaltpläne zu ermöglichen oder ansonsten die Klage mangels Beweis der behaupteten Verletzung abzuweisen.
Damit hätte man auch dem gerichtlich bestellten Sachverständigen, dem Jülicher Professor Dr. Stefan van Waasen , eine solide Arbeitsgrundlage gegeben. Letztlich könnte auch der Ruf dieses Professors in Mitleidenschaft gezogen werden. Denn auch wenn er im November erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass keine Patentverletzung vorläge, sprechen die auf Fakten statt Vorstellungsvermögen beruhenden Feststellungen der beiden Richter in USA eine andere Sprache. Aktuell beschäftigt dieser Streit drei Münchner Institutionen gleichzeitig. Beim Europäischen Patentamt liegt ein Einspruch von Apple und Intel gegen Qualcomms Klagepatent vor, über welchen am 24. Mai verhandelt und wahrscheinlich auch entschieden wird. Kurzfristig aber liegt die wesentlichste Entscheidung beim Oberlandesgericht München. Dieses wird voraussichtlich in Kürze (zumindest noch diesen Monat) über einen Aussetzungsantrag von Apple entscheiden. Wird Apples Antrag stattgegeben, ist das Verkaufsverbot für die Dauer des Berufungsverfahrens beim OLG außer Kraft. Deutsche Berufungsgerichte setzen solche Verbote zwar relativ selten aus, die außergewöhnlichen Umstände des vorliegenden Falles dürften Apple aber Hoffnung machen.
Qualcomm mit harter Forderung
Aber auch das Landgericht hat noch weitere Arbeit damit. Letzte Woche stellte Qualcomm einen so genannten Bestrafungsantrag beim Landgericht München I. Ginge es nach Qualcomm, solle Apple wegen Verstoßes gegen das Urteil eine empfindliche Geldbuße zahlen oder ersatzweise Tim Cook eine Ordnungshaft absitzen, was dem Apple-CEO aber nicht blüht. Nur dann, wenn ein Ordnungsgeld aufgrund Insolvenz nicht beigetrieben werden kann, kommt es zur sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe. Rein theoretisch kann ein Gericht auch anstatt eines Ordnungsgeldes direkt eine Ordnungshaft anordnen. Dies darf man jedoch im Falle eines (so er denn vorläge) erstmaligen Verstoßes wirklich ausschließen. Eine derart drakonische Sanktion käme allenfalls in Frage, wenn nach mehrfachen, immer höheren Ordnungsgeldern ein Unternehmen immer noch hartnäckig zuwiderhandeln würde.
Worauf sich Qualcomm beruft: Das Münchner Patenturteil verlangt von Apple neben einem Verkaufsstopp auch den Rückruf aller iPhone 7, 8 und X aus den deutschen Vertriebskanälen, wo diese Geräte jedoch weiterhin – außer in den offiziellen Apple Stores – vorzufinden sind, als wäre nichts gewesen.
Wie die von einem deutschen Patentanwalt betriebene Website ipwiki erklärt , kann der Patentinhaber (hier: Qualcomm) aber nicht den Schuldner (hier: Apple) für die eigenständigen Entscheidungen der Wiederverkäufer (Mobilfunkanbieter und Händler) verantwortlich machen. Um dem Münchner Urteil Folge zu leisten, muss Apple lediglich seine Kunden “ernsthaft” auffordern, die Geräte zurückzugeben, und ihnen zusichern, dass sie ihr Geld zurückerhalten und die Versandkosten erstattet bekommen. Wenn aber diese sich dennoch entscheiden, die Geräte lieber weiter zu verkaufen , kann Apple dafür nicht bestraft werden.
Sein eigentliches strategisches Ziel scheint Qualcomm ohnehin schon verfehlt zu haben. Dieses wäre gewesen, durch Patentverletzungsklagen in USA, Deutschland und China Apple so unter Druck zu setzen, dass es zu einer kurzfristigen Beilegung des gesamten weltweiten Streites gekommen wäre. Denn am 15. April steht ein großer Geschworenenprozess in San Diego an. Dort klagen Apple und seine Auftragsfertiger Foxconn, Wistron, Pegatron und Compal gegen Qualcomm – und Qualcomm schießt natürlich zurück. Würden theoretisch Apple und die Auftragsfertiger auf ganzer Linie gewinnen, müsste Qualcomm ca. 28 Mrd. US-Dollar bezahlen; Qualcomm scheint im für sich günstigsten Fall anzustreben, dass ein ähnlich hoher Betrag in umgekehrte Richtung flösse .
Im Vergleich dazu nimmt sich das, worum es im Münchner Patentstreit mitsamt aller Ausläufer und Parallelverfahren geht, doch sehr bescheiden aus. Eine himmelsschreiende Ungerechtigkeit ist es gleichwohl, wenn man vom wahrscheinlichsten Fall ausgeht, nämlich, dass die beiden Richtersprüche in USA, die auf einer Analyse der Tatsachen beruhen, im Ergebnis korrekt sind, während das Landgericht München I Qualcomm für die Vorenthaltung der Fakten belohnte.