Diese eine Abteilung findet man im Bookstore: Die meisten Klassiker bekommt man dort kostenlos. Die Urheberrechte auf die Bücher von Goethe, Schiller bzw. Shakespeare oder Jane Austen sind längst erloschen, daher kann man die Klassiker gratis herunterladen. Doch wie kommen die Werke, bekannt aus der Schule, von einem Papierblatt auf das iPhone, iPad oder den Kindle? Eine der größten Quellen für derartige E-Books ist die Seite „Project Gutenberg“ ( zur Zeit in Deutschland wegen eines Rechtsstreits mit dem S. Fischer Verlag gesperrt ). Die dort verfügbaren Bücher finden ihren Weg in diverse Stores der Privatanbieter.
Während der Schritt von Project Gutenberg zu Apple oder Amazon ein kleiner ist, steckt richtig viel Arbeit darin, die gedruckten Bücher fehlerfrei zu digitalisieren. Wir haben dafür mit einigen Mitgliedern der deutschsprachigen Community gesprochen. Denn hinter dem Projekt Gutenberg, das eine Online-Plattform für die E-Books anbietet, steht noch eine große Gemeinschaft freiwilliger Helfer, die sich Distributed Proofreaders, zu Deutsch „Kollaborative Korrekturleser“ nennen. Das globale Team zählt 1300 aktive Mitglieder , das deutsche Team knapp 500 . Constanze Hofmann, die bei Distributed Proofreader auch eine Admin-Rolle übernimmt, merkt jedoch an, dass die Anzahl der aktiven deutschen Mitglieder deutlich niedriger ist.
Das Korrekturwerk der Vielen
Mittlerweile sind durch die Distributed Proofreaders mehr als 37 000 Bücher digitalisiert worden. Das Team-Mitglied Reiner Ruf erinnert sich, wie er im Jahr 2013 zum Projekt stieß: Damals fand er auf der Gutenberg-Webseite elektronische Bücher, die ihn interessierten. Ruf wollte sich für diese kostenlose Leistung revanchieren – und fand auf der Webseite einen Anmeldelink für die Distributed Proofreaders . Seitdem ist der gelernte Chemiker in der Community aktiv.
Auch Constanze Hofmann ist über den gleichen Weg auf Distributed Proofreader gekommen, allerdings bereits 2006. Das Projekt bewahre alte Klassiker, aber auch Bücher, die nicht mehr nachgedruckt werden, vor dem Vergessen. Auch diese haben heute ihren historischen Wert als Quelle von altem Wissen.
Die Bearbeitungszeiten für ein Buch sind immer unterschiedlich – je nachdem wie viele Freiwillige zur Verfügung stehen und je nachdem wie umfangreich ein Buch ist. Ein deutsches Buch mit 800 Seiten kann schon mal zwei Jahre in Bearbeitung sein. Laut Constanze Hofmann ist aber der Prozess immer der Gleiche: Die Bücher werden meist entweder von Internet Archive oder Google Books besorgt, dort sind sie zunächst nur als gescannte Bilder verfügbar. Ab hier gilt es für die Freiwilligen die Buchteile wie Einband, Titelblatt etc. zu trennen, die Texte von einer OCR-Engine (zur Zeit von Abbyy gestiftet) erkennen zu lassen und Illustrationen, falls vorhanden, zusätzlich zu bearbeiten. In diesem Rohzustand geht der Text an die Korrekturleser. Standardmäßig sind mindestens drei Korrektur-Runden vorgesehen und wer ein Korrekturleser der dritten Stufe sein will, muss sich in der Hierarchie der Freiwilligen hocharbeiten. Danach folgen jeweils zwei Formatierungsrunden, wobei die Umbrüche, Abstände, Zeilenumbrüche bei Strophen und die Abstände zwischen den Wörtern geprüft und ausgebessert werden. Die kleinste Einheit bei diesen Aufgaben ist eine Buchseite. Ist diese fertig, kann sich der einzelne Korrekturleser für die nächste eintragen.
Drei Stufen vom Scan bis zum Buch
Auf den dritten und letzten Stufe entsteht ein fertiges elektronisches Buch: Hier werden Text und Illustrationen zusammengefügt. Auch hier arbeiten an der Entstehung mindestens drei Personen: Post Processor (in etwa Nachbearbeiter), Smooth Reader (finale Korrektur) und ein Post Processing Verifier (Abnehmer). Ab dann gelangt das Buch auf die Plattform von Project Gutenberg und steht der Öffentlichkeit zur Verfügung.
Weil der Gebrauch von E-Book-Dateien vom Project Gutenberg nicht eingeschränkt ist, sind die meisten elektronischen Bücher in den Stores wie denen von Apple und Amazon mehr oder weniger Raubkopien, bedauert Greg Newby, CEO von Project Gutenberg. Nach den aktuellen Lizenzbestimmungen sollen solche E-Books einen deutlichen Hinweis auf Project Gutenberg führen. Falls die Bücher kostenpflichtig vertrieben werden, soll Project Gutenberg 20 Prozent der Umsätze als Lizenz erhalten. Laut Newby können oder wollen die Betreiber von solchen Stores – sei es Apple oder Amazon – nicht überprüfen, ob denn Personen, die solche Bücher hochladen, tatsächlich auch die Reche daran halten. Ironie der Geschichte: Durch die Sperrung der Project-Gutenberg-Seiten in Deutschland sind die Stores von Apple und Amazon beinahe die einzige Quelle für diese (kostenlosen) Klassiker.
Es ist schon bemerkenswert, dass ein Freiwilligen-Projekt, das auf reiner Fleißarbeit und Routineaufgaben basiert, so lange bestehen kann. Gegründet wurden Distributed Proofreaders bereits im Jahr 2000. Anders als vielerorts im Netz gibt es in der Community keine Trolle, versichert uns Reiner Ruf. Ganz im Gegenteil – manche Teilnehmer steigen in eine Mentoren-Rolle auf und erklären den Neulingen, wie man am besten seine Aufgabe erledigt. Constanze Hofmann merkt an, dass sie als Admin auch zuweilen mit nicht sonderlich angenehmen Äußerungen konfrontiert ist. Dadurch, dass die Community aber davon lebt, neue Freiwillige willkommen zu heißen, wird auch die entsprechende Kultur gepflegt. Das gemeinsame Ziel und Interesse vereinen die Menschen besser, als anderswo in den sozialen Medien.
Kleines Team, freundlicher Umgangston
Dadurch, dass das deutsche Team relativ klein ist, kennt man zumindest die aktivsten Mitglieder. Manche davon beteiligen sich übrigens noch bei dem deutschen Ableger von Project Gutenberg, das von Spiegel Online gehostet und von dem Unternehmen „Hille & Partner“ betrieben wird. So kann es auch kommen, dass manche Bücher auf Deutsch doppelt vorhanden sind – einmal auf Project Gutenberg und einmal auf Project Gutenberg-DE. Kleiner Unterschied: Die E-Book-Formate auf Project Gutenberg-DE sind kostenpflichtig.
Außer der freundlichen Community gibt es noch einen Grund, warum viele Teilnehmer dem Projekt über die Jahre treu bleiben: Seine Aufgaben kann man sich selbstständig auswählen und einteilen. Ein ganzes Kapitel oder gar ein ganzes Buch muss man nicht alleine abarbeiten, meistens wählt man sich nur eine Seite aus, ist diese fertig, schnappt sich der Freiwillige eine nächste, nicht unbedingt aus dem gleichen Buch. Die Korrekturleser können auch selbst Bücher zur Digitalisierung vorschlagen. Je nachdem wie lang die Warteschlange ist und wie viele Korrekturleser in der jeweiligen Sprache zur Verfügung stehen, wird das gewünschte Buch früher oder später in ein E-Book-Format gebracht. Constanze Hofmanns nächstes großes Projekt bei Distributed Proofreaders ist beispielsweise, Thérèse de Dillmonts “Encyclopedia of Needlework” auf Deutsch in einer digitalen Variante herauszubringen.
Jeder der Korrekturleser hat auch ganz persönliche Beweggründe: Reiner Ruf findet beispielsweise, dass die alten Bücher einen gewissen Charme oder Aura ausströmen. Dazu sind sie im Gegenteil zu den aktuellen Produkten auf dem Buchmarkt sehr individuell, ja kunstvoll gestaltet. Constanze Hofmann glaubt, dass die digitalisierten E-Books mehr Freude beim Lesen bereiten als nur abfotografierte Scans. Aber abgesehen von der äußeren Erscheinung lohnt es sich immer, ein altes Buch für die kommenden Generationen zu erhalten. Das Wissen darin hat immer noch seine Allgemeingültigkeit, ob auf einem Pergament oder eben mit E-Ink dargestellt.