Wer auf der Apple Watch die tägliche Herausforderung annimmt und alle Ringe schließen will, muss nicht nur eine bestimmte Anzahl an Kalorien verbrennen und über eine bestimmte Zeit trainieren oder sich zumindest intensiv bewegen, sondern am Tag jeweils einige Minuten in jeder Stunde stehen oder sich bewegen. Standardmäßig sind zwölf solche Stehstunden notwendig, um den blauen Ring auf der Apple Watch zu schließen. Diese Herausforderung ist schon fast ein Alleinstellungsmerkmal der Apple-Smartwatch unter den Fitnesstrackern, viel erklärt Apple dazu nicht : „Der Ring “Stehen” gibt die Stunden an, in denen du aufgestanden bist und dich mindestens eine Minute im Raum bewegt hast. Erreiche dein tägliches Stehziel, indem du zwölfmal am Tag einmal pro Stunde aufstehst und mindestens eine Minute ein wenig umhergehst. Selbst wenn du den ganzen Tag über stehst, musst du dich trotzdem bewegen, um Punkte für das Stehen zu erhalten.“
Auf der Übersichtsseite zu den Funktionen der Ringe steht auch nicht viel mehr, Apple erklärt lediglich, dass das lange Sitzen zur Ausbildung von Diabetes Typ 2 beitragen kann, die Stehpausen könnten aber den Blutzucker regulieren.
Was bewirkt das lange Sitzen?
Wir haben uns für die Erklärung an Dr. Katrin Röttger gewendet, akademische Rätin am Institut für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Freiburg.
Dr. Röttger erklärt, dass eine lange und ununterbrochene Sitzzeit mittlerweile zu den gesundheitlichen Risikofaktoren gehört. Das heißt, dass Menschen, die im Alltag vorwiegend sitzen, früher sterben und öfter Herzkreislauferkrankungen oder Diabetes Typ 2 entwickeln, als vergleichbare Personen des gleichen Alters und Geschlechts, die im Alltag vorwiegend stehen oder sich bewegen. Warum das so ist, haben Forscher anhand von sogenannten „Bed-Rest-Studies“ herausgefunden: Dabei mussten sich die Probanden ins Bett legen und sich eine bestimmte Zeit nicht bewegen. Währenddessen wurden bei ihnen Vitalzeichen und weitere Körperwerte gemessen. Dabei hat sich unter anderem herausgestellt, dass selbst nach einer kurzen Zeit der Immobilisation der Körper beispielsweise ein Enzym – also in etwa ein Katalysator oder Beschleuniger bestimmter chemischen Prozesse in Körper – genannt Lipoproteinlipase, weniger produziert. Dieses Enzym ist jedoch für einen gesunden Fettstoffwechsel wichtig, es zersetzt gefäßschädigende Triclyceride in freie Fettsäuren und Glycerin, die zur Energiegewinnung im Muskel genutzt werden können und somit nebenbei das gefäßschützende HDL-Cholesterin produzieren.
Eine weitere Folge langer Bewegungslosigkeit ist der verlangsamte Wechsel der Glukose aus dem Blut in die Zellen und deren weitere Verstoffwechslung. Wie schon Apple darauf hinweist, kann dadurch das Diabetesrisiko steigen.
Ich sitze den ganzen Tag vor dem Rechner, was kann ich tun?
Um dem Ganzen entgegenzuwirken muss man die Sitzzeit durchbrechen und in regelmäßigen Abständen den Kreislauf beschleunigen. Das einfachste Mittel ist Bewegung oder allgemeiner gefasst Muskelaktivität. Dr. Röttger weist darauf hin, schon ein paar mal nacheinander vom Stuhl aufzustehen würde für eine Stunde reichen. Hintergedanke ist dabei, so viele Muskelgruppen, wie nur möglich, zu aktivieren, damit das erwähnte Enzym durch Muskelkontraktion produziert werden kann. Und an Beinen und Po sind die größten Muskelgruppen im menschlichen Körper.
Was aber erschwerend in der Corona-Pandemie dazu kommt, sind fehlende Tagesrituale, die zusätzliche Bewegung verlangen: Der Weg zur Arbeit, zur Kaffeeküche, zum Drucker etc. Diese Bewegungseinheiten im Alltag sind für die allgemeine Gesundheit mitunter deutlich wichtiger als nur Sport im Fitnessstudio. Denn selbst dreimal die Woche Sport wird nicht die fünf Tage á acht Stunden Dauer-Sitzen kompensieren. Es hat sich in den letzten Jahren sogar der Begriff „active couch potatoe“ etabliert, damit bezeichnet man Menschen, die zwar in der Woche Sport treiben, ansonsten jedoch einen recht unbeweglichen Lebensstil führen. Was ein Mangel an Alltagsbewegung bewirken kann, hat wohl sehr deutlich die andauernde Corona-Pandemie bewiesen. Viele sind ins Home-Office mit kurzen oder gar keinen Wegen gewechselt, auch Kaffeepausen fallen weg.
Nach Aussagen unseres Fitnesstrainers hat ein Fitnessstudio-Besucher im Sommer 2021 im Schnitt knapp fünf Kilogramm Fettgewebe seit Beginn der Pandemie zugelegt.
Laut Dr. Röttger ist es aber nie zu spät dem entgegenzuwirken. Dafür muss man auch im Home-Office Tagesrituale etablieren, die sich nicht vom Arbeitstisch aus erledigen lassen: Für eine Pause auf die Terrasse oder auf den Balkon treten, statt des Wegs zur Arbeit vom Bürobeginn beim Bäcker Brötchen holen, als Denkpause Kniebeugen ausüben, etc.
Was kann Apple verbessern?
Auf unsere Frage, ob Apples Stehanforderung überhaupt etwas bewirken kann, antwortet Dr. Röttger, dass das Prinzip an sich nachvollziehbar sei. Ob Apple die Ergebnisse seiner internen Auswertungen oder möglichen Studien mit der Allgemeinheit teilt, bleibt abzuwarten.
Die Wissenschaftlerin wünscht sich, dass der Hersteller die Funktion für die Watch etwas ausbaut: Statt einfacher Erinnerungen kann die Uhr konkrete Hinweise geben: „Mache jetzt fünf Kniebeugen“, „Steh auf und mache zehn Hampelmänner“, „Gehe in die Küche und mach dir einen Kaffee/einen Tee“. Auf jeden Fall ist der Stehring auf der Apple Watch kein buntes Gimmick, um einfach da zu sein, sondern eine sinnvolle und nützliche Funktion, die dem Nutzer hilft, gesundheitliche Risiken zu reduzieren.